Verbindliche Grundschulempfehlung – was eine Scheindiskussion!

Veröffentlicht von KONTRA Redaktion am

Kevin Erath (KV Ostalb) geht in seinem Gastbeitrag auf die erneut von konservativen Kräften heraufbeschworene Diskussion zur Grundschulempfehlung, als mögliche Lösung für den Umgang mit der zunehmenden Heterogenität innerhalb einer Klasse, ein.

Zurzeit wird in Baden-Württemberg wieder beherzt über die verbindliche Grundschulempfehlung (GSE) diskutiert. Junge Union, FDP und einige Lehrerverbände stimmen ein in das Lied, das die „guten alten Zeiten“ heraufbeschwört. Ich sage: eine verbindliche Grundschulempfehlung ist weder sinnvoll noch löst sie die viel beschriebenen Probleme.

Das Halbjahr ist vorbei – die Grundschüler:innen warten auf ihre Grundschulempfehlung. Was sagt die Lehrkraft, wohin die Reise für die nächsten Jahre hingehen soll? Eine folgenreiche Entscheidung, die an diesem Tag verkündet wird. Sie wird mindestens über die nächsten fünf Jahre, wenn nicht das ganze Leben, entscheiden.

Meine These: Die Grundschulempfehlung ist ungeeignet, um Schüler:innen in feste Lernniveaus einzuteilen. Das gemeinsame Lernen sollte so lange wie möglich gehen.

Die Grundlagen

Die Grundschulempfehlung soll Schüler:innen zum Ende der Grundschule in drei „Leistungsklassen“ ordnen – in die Niveaustufen. An erster Stelle steht das „G-Niveau“, das Grundlegende. (Früher: Haupt- oder Volksschulniveau.) An mittlerer Stelle kommt das „M-Niveau“. (Vergleichbar mit der Realschule, führt zur Mittleren Reife.) Das gymnasiale Niveau heißt auf bildungsbürokratisch „E-Niveau“. Das „E“ steht hierbei für „erweitert“.

Der Status Quo

Derzeit gibt es in Baden-Württemberg eine „unverbindliche Grundschulempfehlung“. Das heißt: Die Lehrkraft empfiehlt den Eltern eine Schulart aufgrund „einer pädagogischen Gesamtwürdigung“ (Leistungsstand, soziale & psychische Reife, Lern- & Arbeitsverhalten, Entwicklung). Diese Empfehlung ist jedoch nicht verpflichtend. Lediglich bei der Schulanmeldung muss sie vorgelegt werden – ohne Folgen.

Für Nerds:
§ 5 Abs. 2 Schulgesetz
§ 1 Abs. 2 Aufnahmeverordnung

Mit dieser Variante können die Eltern einen fachlich-pädagogischen Ratschlag ohne weiteres aushebeln. Dabei haben sie nicht immer den Einblick und die Ausbildung für diese Beurteilung. Eine Über- oder Unterschätzung hilft – bei allem guten Willen – dem Kind nicht. Hinzukommt: Kinder eines Akademikerhaushaltes werden eher zu einer höheren Schulart, die eines Nicht-Akademikerhaushaltes zu einer Niedrigeren gedrängt. Im Sinne einer Bildungsgerechtigkeit ist dieses Modell  problematisch.

Die verbindliche Grundschulempfehlung

Aus dem konservativ-liberalen Raum ist daher immer wieder die Forderung einer „verbindlichen Grundschulempfehlung“ zu hören. Dabei soll die bisherige Empfehlung zur verpflichtenden Vorgabe werden. Somit ist nicht mehr die Einschätzung der Eltern, sondern die der Lehrkraft ausschlaggebend. Um doch eine höhere Schule besuchen zu können, soll der/die Schüler:in eine Aufnahmeprüfung an einer ablegen – doch diese zählt nur für die jeweilige Schule, nicht die gesamte Schulart.

Für Nerds:
 CDU-Forderung: Beschlüsse des 73. Landesparteitags
 FDP-Forderung: Gesetzesvorschlag

In der folgenden Tabelle sind die Zahlen der Grundschulempfehlung aus dem Schuljahr 2021/22 und dem Übergang dieser Schüler:innen auf die weiterführende Schule dargestellt:

SchulartHaupt-/Werkrealschule (G-Niveau)Realschule (M-Niveau)Gymnasium (E-Niveau)Gemeinschaftsschule (alle Niveaus)
GSE[1]21,3 %26,6 %50,4 %
Übergang[2]5,3 %33,0 %45,0 %13,5 %

Sie zeigt: an das Gymnasium wechseln weniger, als sie dürfen. An die Realschulen mehr. Was jedoch nicht außer Acht gelassen werden darf ist, dass es in Klasse 5 und 6 der Realschule eine Orientierungsstufe gibt. Das heißt, Schüler:innen werden in dieser Zeit gemeinsam auf G- und M-Niveau unterrichtet. Erst danach werden sie “Klassenrein” sortiert. Hinzu kommt, dass Realschulen mittlerweile auch einen G-Niveau-Zweig anbieten.

Daher ermöglicht die verbindliche Grundschulempfehlung weder die propagierte „klarere Trennung“, noch eine „geringere Heterogenität“ in den Klassen. Im Ergebnis ändere sich damit nur wenig bis nichts am Status Quo.

Des Weiteren passen Lehrer:innen die Grundschulempfehlung dem Bildungsstand der Eltern an. Sollte dennoch die Empfehlung schlechter ausfallen, haben gerade bildungsnahe Haushalte tendenziell mehr Ressourcen, um das Kind auf Aufnahmeprüfungen vorzubereiten und diese dazu zu motivieren. Für alle anderen Eltern wird die Entscheidungsfreiheit stark eingeschränkt. Der Zusammenhang zwischen Elternhaus und Schulabschluss der Kinder würde sich noch weiter verschärfen. Um die Heterogenität zu verringern, müssten härtere Quoten eingeführt werden. Wer jedoch eine solche Forderung erhebt, muss bereit sein, allen Schüler:innen, Eltern und Lehrer:innen, in die Augen sehend, zu erklären, dass es ab sofort weniger Gymnasiast:innen und Realschüler:innen geben wird – und der Traum von der mittleren Reife/dem Abitur vorerst gestorben ist.

Die prüfungsbasierte Grundschulempfehlung

Ein anderer Vorschlag für mehr „Trennschärfe“ in der Empfehlung zu erhalten ist die „prüfungsbasierte Grundschulempfehlung“. Dieser Vorschlag sieht im ersten Halbjahr der vierten Klasse eine (oder mehrere) zentrale Eignungsprüfung(en) vor. Je nach Modell werden die Prüfungsergebnisse mit den Leistungen ab der dritten Klasse verrechnet. Die Resultate bestimmen das entsprechende Lernniveau.

Für Nerds:
 IQB-Lernstandserhebung Aufgaben

Eine Objektivität bringt auch diese Variante nicht mit sich. Entweder ist eine solche Eignungsprüfung zu oberflächlich oder für Grundschüler:innen zu umfangreich. Ein weiterer Nachteil: Hierbei wird nur der aktuelle Kenntnisstand betrachtet. Entwicklungspotenziale und soziale Fähigkeiten finden keine Berücksichtigung – die (so wichtige) pädagogische Komponente fehlt. Zudem werden allen Beteiligten die Entscheidungsmöglichkeiten genommen. Und was, wenn das Kind ausgerechnet in der Prüfungszeit eine schwierige Phase (familiär, persönlich, etc.) durchmacht und aufgrund dessen schlechter abschneidet?

Keine Grundschulempfehlung

Die letzte Option ist, keine Grundschulempfehlung auszusprechen.

Das wäre eine empfehlenswerte Option, wenn die Möglichkeit besteht, in der weiterführenden Schule in jedem Fach nach persönlichen Stärken und Schwächen auf dem eigenen Niveau lernen zu können – bis dato ist das (fast) nur an der Gemeinschaftsschule möglich.

Was sich eigentlich ändern muss

Keines der vorgestellten Modelle ist das Heilmittel für das, was beklagt wird: Fehlender Umgang mit der zunehmenden Heterogenität innerhalb einer Klasse. Dafür sind die Bedürfnisse und Förderbedarfe der Schüler:innen schlicht zu unterschiedlich.

Der Hebel, an dem man folglich ansetzen sollte, ist keine erneute Diskussion um die Grundschulempfehlung. Stattdessen braucht es Überlegungen, wie man einer immer heterogener werdenden Schülerschaft begegnet. Schüler:innen über mehrere Fächer hinweg in dasselbe Lernniveau einzuteilen, ist nicht zielführend und wird den modernen Anforderungen an Bildung und Können nicht gerecht. Eine Grundschulempfehlung soll zwar in einer schärferen Form die Abhängigkeit von Elternhaus und Schulabschluss verringern, bewirkt aber teilweise das Gegenteil.

Zugleich gilt: Wer nur lern- und sozialschwache Schüler:innen zusammen gruppiert, darf sich nicht wundern, wenn sich Parallelgesellschaften und Milieus bilden.

Wer wirklich zukunftsgerecht und im Interesse der in sich unterschiedlichen Schülerschaft handeln will, müsste Lösungen finden, wie längeres gemeinsamen Lernen realisiert wird. Die Gemeinschaftsschulen endlich konstruktiv begleiten und zukunftsfähig aufzustellen wäre eine Möglichkeit. Es wird immer wieder eine Dienstpflicht ins Feld geführt, um die Gesellschaft wieder zusammenzuführen. Wie wäre es, wenn man sie nicht schon im Kindesalter trennt? Es wäre jedenfalls zielführender als eine solche Scheindiskussion. So müssen sich all jene, die diese Diskussion befeuern, den Vorwurf des unaufrichtigen Populismus gefallen lassen.


[1] https://www.statistik-bw.de/BildungKultur/SchulenAllgem/GSE.jsp?y=2021&f=Rg

[2] https://www.statistik-bw.de/BildungKultur/SchulenAllgem/AU_uebergaenge.jsp