Eine Ode an das 9-Euro-Ticket

Veröffentlicht von KONTRA Redaktion am

Von unserem Chefredakteur Martin Wenger

Es ist Montagabend, 18.23 Uhr. Irgendwo zwischen Kutzenhausen und Augsburg sitze ich in einer heillos überfülltem Regionalbahn von Ulm nach München. Es sind Sommerferien, ich gehe einen guten Schulfreund besuchen. Auf den letzten Metern des 9-Euro-Tickets sehe ich nicht ein, der Deutschen Bahn einen Fuffi nachzuwerfen, um ICE zu fahren.  Und außerdem: war da auch nicht irgendwas mit 9-Euro-Ticket und Abenteuergeist?

Der erste Teil der Strecke von Stuttgart nach Ulm war allerdings ein Alptraum: kein Sitzplatz, keine Klimaanlage, im überfüllten Gang stehen. Da sehne ich mich in leere IREs zurück, in denen man gefühlt ein Abteil für sich hatte. Ich erwische mich beim Gedanken, warum ich nicht das Auto genommen habe. Aber hier sitze ich nun, nach dem Umstieg in Besitz eines Sitzplatzes. Auf dem Gangboden sitzen Kinder an ihren Handys, ein Fahrradfahrer regt sich beim Halt auf, dass er nicht mitgenommen werden kann. Sorry, wir sind voll. Der Trip wird mich am Ende dank 9-Euro-Ticket für meine Mobilität keinen Euro extra gekostet haben. Christian Lindner nennt das Gratismentalität. Ich nenne es Kurzurlaub.

Denn die Wahrheit ist auch: ohne 9-Euro-Ticket hätte ich mir meinen München-Trip schlicht und einfach nicht leisten können. Es ist Ende des Monats. Auch viele Studierende merken die Inflation beim Blick auf ihr Konto. Es gab in meinem Studium schon finanziell einfachere Situationen. Da ist das 9-Euro-Ticket ein Mobilitätsgarant für den kostengünstigen Urlaubstrip.

Das ist die erste längere Reise für mich mit dem 9-Euro-Ticket. All die Instagram Posts, die mir erklären, wie ich vom Bodensee nach Sylt oder von Freiburg nach Berlin fahren kann, habe ich immer belächelt. „Und man hat auch nur eine Stunde mehr auf der Reise-Uhr als mit dem ICE für die gleiche Strecke“, habe ich mir bei der Planung gesagt. Das geht schon. Luxus in der Bahn bin ich eh nicht gewohnt. Dass die Bummelbahnen auch mal irgendwo auf der Strecke stehen bleiben, halte ich aus. Ich bin im Urlaub, da kommt es nicht auf jede Minute an.

Bisher bin ich nur meine alltäglichen Wege mit dem 9-Euro-Ticket gefahren. In meiner Studienstadt Tübingen und in der Heimat, im Kreis Böblingen. Dabei ermöglichte es mir, zuhause wieder mehr Bahn zu fahren. Im Winter hatte ich entschieden, mir nur mein Studi-Ticket zu holen und das 300-Euro-Anschlussticket einzusparen. Das bedeutete auch weniger Bus und Bahn zu fahren und dafür mehr Auto. Da hat das Sonderticket mit der Gültigkeit direkt ein Problem des ÖPNVs behoben. Die frustrierende Kleinstaaterei mit den Verkehrsverbünden wurde aufgehoben. Mit einem Ticket in Stuttgart und Böblingen plus Tübingen und Umgebung unterwegs zu sein – vor einem Jahr ein undenkbarer Luxus. So fahre ich deutlich mehr in meinem Alltag in der Gegend rum. Dabei bin ich nicht der Einzige.

18.35 Uhr. Die nette ältere Dame mir gegenüber versucht auszusteigen. Es bricht leichtes bis mittelgroßes Chaos im Waggon aus, schlussendlich gelingt es ihr.

38 Millionen. 38 Millionen Mal wurde das 9-Euro-Ticket verkauft. Ein Riesenerfolg. Verkehrsforscher:innen bilanzieren: Das 9-Euro-Ticket hat die Fahrten mit dem ÖPNV wieder auf das Vor-Corona-Level gehievt. Das ist erfreulich, denn gerade in der Pandemie malten viele Politiker:innen und Funktionär:innen das Ende des ÖPNVs an die Wand. ÖPNV wird angenommen, wenn er bezahlbar ist. Sie halten aber auch fest, dass nur wenige vom Auto auf den ÖPNV dauerhaft umsteigen. Es werde für viele Zusatzfahrten benutzt und sei kein Beitrag für mehr Klimaschutz, hört man gerade oft aus der liberalen Ecke, die eine Verlängerung ablehnt. So what? Hat damit ernsthaft jemand gerechnet?

Ein auf drei Monate begrenztes Ticket soll es schaffen, dass Leute ihre Autos verkaufen und ab sofort nur noch Bahn fahren? Wer das denkt, kennt die Deutschen nicht. Ein befristetes Experiment ist zu so etwas nicht in der Lage. Aber unbestreitbar: seit langem war der ÖPNV nicht mehr so stark im Gespräch. 98 Prozent kennen laut Umfragen das 9-Euro-Ticket. Das sind höhere Bekanntheitswerte als die des Kanzlers oder Günther Jauchs.

Es hat seinen Teil zum Entlastungspaket beigetragen. Für viele Menschen sicherte es, günstig mobil zu sein. Mit dem gesparten Geld im ÖPNV konnten andere finanzielle Löcher gestopft werden. Gleichzeitig sagen Forscher:innen des Instituts der Deutschen Wirtschaft, dass das 9-Euro-Ticket die Inflation um etwa zwei Prozent gedämpft hat.

Daher liegt der wahre Erfolg des 9-Euro-Tickets nicht in ökologischen Aspekten. Es ist der soziale Aspekt, der es so wertvoll macht. Es ist eine Mobilitätsgarantie für alle. Es entlastet den Geldbeutel für Abonnent:innen. Es macht den ÖPNV für Menschen erschwinglich, die sich ein Abo davor nicht leisten konnten. Es ermöglicht auch mal einen Kurzurlaub, der sonst finanziell schwierig geworden wäre. Es macht Menschen mobil. Das sollte einer Gesellschaft 2,5 Milliarden Euro wert sein. Und das ist auch der Grund, warum der FDP nicht viel an der Weiterführung liegt. Ebenso wenig an einem Anschlussticket, egal ob 29 Euro im Monat oder 365 Euro im Jahr. Für die FDP ist günstige Mobilität für jede:n Gratismentalität, für Sozialdemokrat:innen ist es ein Teil der Daseinsvorsorge.

19.05 Uhr. Ich werde jäh aus meinem Schreibfluss gerissen. In Augsburg sind Fahrradfahrer zugestiegen – trotz vollem Zug und Durchsage, die Mitnahme sei nicht möglich. Eine Mutter beschwert sich lautstark, denn sie versperren den Weg zur Toilette für ihren Sohn. Der Waggon ist in Aufregung. So eine Stimmung kennt man sonst nur von Bahnfahrten heim vom Wasen oder wenn man aus Versehen die Bahn mit einem Haufen niedergeschlagener VfB-Fans erwischt.

Die Dynamik des 9-Euro-Tickets darf nicht verloren gehen. Es hat das Potenzial das immerwährende Henne-Ei-Problem von Angebot und Nachfrage in Bus und Bahn zu lösen. Bleibt nur die Hälfte der Käufer:innen nach dem Verkehrsexperiment Bus und Bahn treu, ist viel gewonnen. Denn mit hoher Nachfrage lohnt es sich auch endlich in bessere Taktungen und neue Linien zu investieren. Eine Verlängerung bis Jahresende wäre ein wichtiger erster Schritt. Ein günstiges Jahresticket wie das 365-Euro-Ticket, das in mehreren Verbünden zählt, wäre ein guter Vorsatz fürs neue Jahr.

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