„Ich hatte keine Tränen mehr, um zu weinen!“

Veröffentlicht von KONTRA Redaktion am

Benjamin Merkt, Juso aus Böblingen, ist seit einigen Jahren in der Gedenkstätten- und Erinnerungsarbeit engagiert. Dieses Jahr hat er auf einer Israelreise mit Überlebenden der Shoa gesprochen. Das Gespräch mit Mordechai Ciechanower hat er fürs KONTRA aufgezeichnet.

Der Balken des Thermometers steigt auf die 30-Grad-Marke zu, der Fahrstuhl eines Hochhauses im israelischen Ramat Gan schiebt sich Stockwerk für Stockwerk nach oben, kommt schließlich zum Stillstand und schiebt seine Türen nach einem kurzen „Bing“ auseinander.

Die Wohnungstüre mit der Nummer 28 wird geöffnet, wo ich mit einem herzlichen „Schalom“ empfangen werde.

Hier lebt Mordechai Ciechanower, der Dachdecker von Birkenau.

Sein Leben ist schmerzlich mit der deutschen Geschichte verbunden und die Nummer „81434“ auf seinem linken Unterarm erinnert ihn stets daran. Zwei Monate nach seinem 98. Geburtstag blickt er für uns zurück.

Mordechai Ciechanower bei Benjamins Besuch in Ramat Gan (private Aufnahme).

Benjamin Merkt: 1924 sind sie in der polnischen Stadt Makow Mazowiecki zur Welt gekommen. Zielony Rynek, was übersetzt so viel heißt wie grüner Markplatz, war ihr zu   Hause. Im Haus mit der Nummer 4 haben sie gemeinsam mit ihren 2 Schwestern und ihren Eltern gespielt, gesungen und geträumt. Von allen Plätzen kamen die Menschen zu ihrem Haus gelaufen und hörten zu, wenn sie gemeinsam auf ihren Instrumenten spielten und gesungen haben.

Mordechai Ciechanower: Diese Zeiten sind schon sehr lange vorbei. Leider!

Benjamin Merkt: Nach dem Überfall und der Besetzung Polens durch die Nazis hat man ihnen ihr Haus weggenommen und sie mussten mit ihrer Familie zunächst in das Ghetto „Makow“ und später in das Ghetto „Mlawa“ umziehen.

Was hat diese Zeit mit Ihnen, einem Jugendlichen, gemacht?

Mordechai Ciechanower: Es war unmenschlich!

Wir mussten aus unserem Haus ausziehen und bekamen eine Wohnung mit 1,5 Zimmern zugewiesen, welche wir uns mit 2 weiteren Familien teilen mussten.

Meine Familie, wir waren 5 Personen, wir mussten uns ein halbes Zimmer teilen.

Die Enge, die in dieser Wohnung geschaffen wurde, war gefährlich.

Als wir im Ghetto „Makow“ lebten, da war es Winter und sehr kalt. Man muss wissen, dass man in Polen zur damaligen Zeit nicht leben konnte, wann man die Wohnung nicht warmgehalten hat, wofür man Holz und Kohle benötigte.

Ausgerechnet an Holz und Kohle hat es gemangelt.

Um die damalige Zeit und die Lage von uns Juden besser zu beschreiben, möchte ich ein Vergleich ziehen.

Ein Deutscher hat damals circa 3000 Kalorien bekommen, die Polen circa 1500 Kalorien und wir Juden 500 Kalorien.

Zu sehen, wie meine Schwestern und meine Eltern hungern, aber kein Stückchen Brot haben, um zu essen, das ist unmenschlich zu erzählen!

Die bittere Zeit im Ghetto werde ich niemals vergessen.

Benjamin Merkt: Im Dezember 1941 wurden sie mit ihren Eltern und ihren 2 Schwestern nach Auschwitz transportiert. Dort kam es auf der Rampe zu jenem Augenblick, den Sie bei ihren Erzählungen so eindrucksvoll beschrieben haben:

„Das war der Augenblick, in dem wir für immer getrennt wurden.

Ich schaute meiner Mutter ins Gesicht. Es war als flehten ihre Augen:

‚Lasst ihr mich allein?‘“

Mordechai Ciechanower: Ich habe keine Tränen mehr, um zu weinen.

Es gibt Momente im Leben, an denen man so viel weint, dass man danach keine Tränen mehr hat, um zu weinen.

Als ich nach Auschwitz gekommen bin war ich 18 Jahre alt.

Ich war noch ein Kind und habe meine Mutter noch gebraucht.

Meine Mutter, meine jüngere und meine ältere Schwester waren so herzliche Menschen gewesen!

Benjamin Merkt: Ich bin im Jahr 2003 geboren und gehöre damit der zweiten deutschen Nachkriegsgeneration an.

Wenn Jugendliche heutzutage das KZ Auschwitz besuchen, dann können wir uns die Dimension der Vernichtung zwar besser vorstellen, können das grauenvolle Leben im Lager selbst jedoch nur erahnen.

Aus ihrer Perspektive, wie hat ein „Leben“ in diesem Vernichtungslager ausgesehen?

Mordechai Ciechanower: Mein Gefühl in Auschwitz war, dass ich zum Tode verurteilt bin. Diese Frage, was dort mit mir passieren würde, die stellte sich mir nicht, sondern ich habe lediglich auf den Moment gewartet, an dem man mich umbringt.         

Ich bin schon unzählige Male tot gewesen, mehr als einmal bin ich zu 95 Prozent tot gewesen und ich habe bis heute keine Antwort auf die Frage, warum ich am Leben geblieben bin.

Jeden Morgen mussten wir uns auf dem Appellplatz versammeln.

Manche hatten keine Kraft mehr um zu stehen und krochen auf allen Vieren aus der Baracke und haben uns auf den Knien angefleht um ein bisschen Wasser und um ein Stückchen Brot.

Ich habe mir gedacht, dass es heute diese Menschen sind und morgen werde ich an deren Stelle sein.   

Im Sonderkommando „Dachdecker“ habe ich mir in kurzer Zeit das nötige Wissen angeeignet, um ein sogenannter „Fachmann“ zu werden.

Ich habe zu dieser Zeit körperlich gar nicht gut ausgesehen, ich habe meine Finger vor dem Kapo versteckt, damit dieser meine Bandagen nicht sieht.

Ich wollte unbedingt im Sonderkommando bleiben, weil ich wusste, dass es für mich bedeutet, dass ich weiterleben darf.

Als mich mein Kapo, sein Name war Seppl, gesehen hat wie ich arbeite, da hat er mich sehr behütet und sich sehr menschlich mir gegenüber verhalten.    

Er wusste, dass er sich auf mich verlassen kann und wenn er mich beauftragt ein Dach zu reparieren, dann wird das 100 Prozent sein.

So bin ich zum Dachdecker von Birkenau geworden.

Am Rande eines Besuchs in Deutschland bin ich einmal gefragt worden, ob ich noch böse sei oder eine Verbitterung verspüre.

Ich antwortete ihm, dass wenn ich hier in Deutschland bin und auf der Straße einen alten Mann sehe, dann kommt in mir das Gefühl auf, dass es bestimmt ein Nazi gewesen ist.

Diese Frage liegt sicherlich bereits 15 Jahre zurück.

Ob mein Gefühl stimmt oder nicht, dass weiß ich nicht, aber das Gefühl ist immer da.

Es waren nicht nur meine Verwandten, die damals zu Tode kamen.

Mein Freund, Laibl Chait, ist in Bergen-Belsen in meinen Händen gestorben.

Wenn er heute noch am Leben wäre, dann wäre er mein Bruder.

Meine Mutter und meine zwei Schwestern sind tot.

Keine Frau aus meiner Heimatstadt hat die Nazizeit überlebt.

Wenn ich daran denke, dann bin ich sehr böse, es war eine sehr schlechte Zeit!

Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden.“

(Elie Wiesel)

Es liegt an uns: Nie wieder!

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