Wir müssen lernen erwachsen zu werden

Veröffentlicht von KONTRA Redaktion am

Ein Gastbeitrag von Benjamin Merkt (KV Böblingen)

Das erste Viertel des Jahres 2023 ist vorbei.

3 Monate, die mich über 2 Kontinente, durch unterschiedliche Kulturen und Gesellschaften meinem großen Ziel näherbrachten: Die letzten noch aktiven Überlebenden des Holocaust zu finden.

Häufig wird mir die Frage gestellt: Warum, warum fliegst du fast 9000 Kilometer um die Welt, nur um dich mit „alten Leuten“ zu unterhalten?

Diese Frage werde ich mit einer Gegenfrage zu beantworten versuchen, die mich auf meinen Reisen stets begleitet.

Warum nehmen hochbetagte Menschen all diese Strapazen und Anstrengungen auf sich, nur um mit Jüngeren über Ihr Leben ins Gespräch zu kommen?

„Das ist ein Testament!“

Eindringliche Worte eines Mannes, der vor über 80 Jahren seine Mutter und beide Schwestern auf der Rampe des Konzentrationslagers Auschwitz zurücklassen musste.

Einen letzten Blick zurück hatte er gewagt und blickte in die angsterfüllten Gesichter der Menschen, die ihm in seinem Leben am wichtigsten waren, bevor sie sich umdrehten und für immer verschwanden.

81 Jahre später sitzt mir der inzwischen 99 Jahre alte Mordechai Ciechanower in seiner Wahlheimat Israel gegenüber.

Benjamin Merkt und Mordechai Ciechanower

„Ich weiß nicht, ob es Schicksal ist, dass ich so lange lebe. Aber solange ich atme, werde ich meine Geschichte weitererzählen“.

Mit Entschlossenheit in der Stimme beugt sich Mordechai in seinem Sessel nach vorne und unterstreicht, was ihn seit Jahrzehnten beschäftigt und antreibt:

„Dieses Testament gehört allen Menschen, die nicht am Leben geblieben sind.

Die haben darum gebeten: Gedenkt uns, bitte vergesst uns nicht.

Dieses Testament werde ich ausführen, damit nichts in Vergessenheit geraten kann“.

Es ist nicht nur seine Mutter und seine Schwestern, die Mordechai in den Jahren des Naziterrors verloren hatte, denn auch seinen besten Freund, Leibl Chait, hat er in dieser Zeit zurücklassen müssen.

In Auschwitz haben sich Leibl und Mordechai kennengelernt und angefreundet.

Mordechai verhalf Leibl ins Dachdeckerkommando von Birkenau, denn er wusste, dass diese Funktion ihnen beiden die Chance auf ein längeres Leben geben würde.

Von Auschwitz ging es für die zwei Freunde mit dem Verschieben der Frontlinien weiter ins Innere des Deutschen Reiches bis ins KZ-Außenlager Hailfingen/Tailfingen, von wo aus sie nach Schließung des Lagers im Februar 1945 auf einem Todesmarsch weiter nach Dautmergen getrieben wurden.

In Dautmergen sammelten Mordechai und Leibl die übriggebliebenen Kartoffelschalen aus der Toilette, die sie abkochten und aßen.

„Das war eine Delikatesse“, erinnert sich Mordechai.

Schließlich wurden die Häftlinge vor die Wahl gestellt: Entweder, in Dautmergen zu verbleiben, oder weiter nach Bergen-Belsen zu gehen.

Mordechai wollte weiterziehen, er hoffte auf bessere Überlebenschancen, Leibl teilte diese Hoffnung nicht und wollte bleiben.

„Mir zuliebe ist er mitgekommen, er wollte mich nicht alleine lassen“, beschreibt Ciechanower seine enge Verbundenheit mit Leibl Chait.

Im KZ Bergen-Belsen ist Leib Chait schwer erkrankt, ohne Medizin wäre er dem Tode geweiht gewesen.

Der Lagerarzt hatte die notwendige Medizin bei sich, um ihn zu retten, wollte allerdings mit Gold bezahlt worden.

„Nachts schlich ich mich aus meiner Baracke und suchte in den Mündern der aufgetürmten Leichen nach Goldzähnen, die ich auch fand und mit Gewalt den Menschen herauszog.

Ich erhielt einen Teil der Medizin und gab sie meinem Freund.

Als uns am 15. April 1945 die englische Armee befreite, da lag ich in einer Baracke, ich war bereits nicht mehr bei Bewusstsein.

Leib Chait lag neben mir, er hatte bereits keinen Puls mehr, er ist in meinen Händen gestorben.

Wenn er heute noch am Leben wäre, dann wäre er mein Bruder“, unterstreicht Mordechai mit weicher und gefasster Stimme.

„Wir sind keine Menschen gewesen“.

Dieser Satz durchbrach die gefasste Stille, jedoch nicht in Tel-Aviv, sondern im 2000 Kilometer entfernten Wien.

Ausgesprochen von einem Mann, dem nach der Schoa noch 1 Tante blieb, alle anderen 64 Familienmitglieder waren tot, ermordet!

„Erich Finsches ist mein Name, ich befinde mich im 96. Lebensjahr, die Gosch funktioniert noch immer, nur die anderen Sachen haben alle nachgegeben“.

17 Jahre war Erich alt, als die Türen eines Viehwaggons vor seiner Nase zuschlugen und der Zug sich von Ungarn aus in Bewegung setzte.

Wohin? Das wusste niemand.

„Nach einer Stunde war im Waggon Chaos.

Die Kinder haben geweint, es herrschte eine Atmosphäre, in der es fast keine Luft zum Atmen mehr gab.

Wir haben in diesem Waggon nicht nur geschwitzt, sondern es hat angefangen zu dunsten und zu stinken, während die Sonne auf das Dach des Zuges drückte.

Am Abend fuhr der Zug weiter, wie weit und wie lange, das weiß niemand.

Die Kälte der Nacht, sie war saukalt, aber sie brachte uns Erleichterung.

Jeden Moment ist eine Person zusammengebrochen, entweder waren sie halb gestorben oder sofort tot.

In den darauffolgenden Tagen war an uns alles gepickt, auf Deutsch würde man sagen, dass wir angeschissen waren, und zwar von oben bis unten, denn es hat ja jeder sein Geschäft machen müssen.

Mit Worten ist diese Situation unbeschreiblich!

Der Gestank, die Situation, die Schreierei, das Atmen der Sterbenden, es ist unvorstellbar.

Am 7. Tag in der Früh sind wir in Auschwitz angekommen, bis dahin hatten wir weder Brot noch Wasser bekommen, was dazu führte, dass bei unserer Ankunft bereits viele Menschen verhungert und verdurstet aus dem Zug fielen.

Die Türen wurden aufgezogen von Häftlingen in „gestreiften Pyjamas“.

Wir verließen den Waggon und hofften auf frische Luft, doch die war nicht da.

Was wir antrafen, war eine Luft, die durchraucht war und gestunken hat nach verbranntem Fleisch, Menschenfleisch“.

Es sind Erzählungen wie diese, die uns immer wieder an die Abgründe unserer Geschichte erinnern, von Menschen, die uns die Hand zur Versöhnung reichen.

Ergreifen wir sie, in dem wir diese Geschichten über ihren Tod hinaus an die nächste und übernächste Generation weitergeben.

Denn die Zeitenwende, das Ende deren Zeitzeugenschaft, liegt in naher Zukunft vor uns.

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