Mobbing: Ein stiller Krieg, den wir längst verloren haben

Veröffentlicht von KONTRA Redaktion am

Es passiert jeden Tag. Im Klassenzimmer, auf dem Pausenhof, in den sozialen Netzwerken. Ein Kind wird gedemütigt, ausgegrenzt, systematisch zerstört – und alle sehen zu. Lehrer*innen, Mitschüler*innen, Eltern. Aber niemand greift ein. Mobbing ist kein Kavaliersdelikt, es ist psychische Folter. Und während wir uns einreden, wir lebten in einer aufgeklärten Gesellschaft, sterben Kinder. Ein Artikel von Finn Riedinger (KV Raststatt Baden-Baden).


Jeder vierte Jugendliche denkt über ein Suizid nach – wegen Mobbing. Wie viele davon sterben, wird selten öffentlich gemacht. Denn die Familien schweigen aus Scham, und die Gesellschaft? Die zuckt mit den Schultern. Es war halt „nur ein Scherz“, „nur eine harmlose Neckerei“. Wirklich? Ist es auch „harmlos“, wenn ein 14-Jähriger sich im eigenen Kinderzimmer erhängt, weil er die ständigen Demütigungen nicht mehr erträgt? Schätzungen zufolge sind jeden Tag mehr als eine Million Kinder und Jugendliche von Mobbing betroffen (zeichen-gegen-mobbing.de). In jedem Klassenzimmer, an jeder Schule. Vielleicht sitzt das Opfer direkt neben dir. Vielleicht bist du Täter*in. Vielleicht bist du eine*r der*die vielen, die einfach wegsehen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: 60 % aller Schüler*innen haben bereits Mobbing erlebt – als Opfer, Täter*in oder Zuschauer*in. Doch was geschieht danach?


Nichts. Die Täter*innen werden selten zur Rechenschaft gezogen. Die Opfer? Bleiben allein mit ihrer Angst, ihrer Wut, ihrer Scham. Es gibt keine Gerechtigkeit. Auch die Schulen, die eigentlich ein sicherer Ort sein sollten, versagen auf ganzer Linie. Lehrer*innen, überlastet und oft schlecht geschult, greifen nur in jedem dritten Fall ein (as-courage.de). Der Rest? Ignoriert es, bagatellisiert es oder glaubt, dass sich „die Kinder schon selbst regeln werden“. Aber Kinder regeln nichts. Sie werden zum Raubtier oder zur Beute – und diese Rollen bleiben oft ein Leben lang. Und als wäre das nicht genug, hat Mobbing längst die Erwachsenenwelt erobert. Jede*r 14. Arbeitnehmer*in in Deutschland wird am Arbeitsplatz gemobbt (destatis.de). Vor der Pandemie wurde jede*r Dritte in Deutschland mindestens einmal im Berufsleben gemobbt (antimobbing.eu). Und wir sprechen hier nicht von kleinen Streitereien oder Meinungsverschiedenheiten. Es geht um gezielte Attacken, systematische Ausgrenzung, psychische und oft sogar physische Gewalt.

Doch was tun Unternehmen? Sie drehen sich weg, denn wer gibt schon gerne zu, dass das Betriebsklima vergiftet ist? Oft wird den Opfern die Schuld gegeben. Sie seien zu empfindlich, nicht teamfähig. Die Täter*innen bleiben, die Opfer gehen. Ein bekannter Zyklus, der sich unendlich wiederholt.


Mobbing ist nicht nur ein individuelles Schicksal, sondern auch ein politisches Versagen. Während täglich Kinder und Jugendliche unter systematischer Ausgrenzung leiden, bleibt die Reaktion der Politik halbherzig. Es fehlt an flächendeckender Unterstützung: Viele Schulen sind unterbesetzt und überfordert. Ich fordere die Einführung eines anonymen Meldesystems für Mobbing, das es den Betroffenen ermöglicht, Vorfälle ohne Angst vor Konsequenzen oder öffentlicher Bloßstellung zu melden. Zudem müssen Schulen endlich dazu verpflichtet werden, ab 400 Schüler*innen mindestens zwei Schulsozialarbeiter*innen einzustellen, die präventiv tätig werden und Opfer schnell unterstützen können. Nur so kann sichergestellt werden, dass Mobbing nicht länger unter den Teppich gekehrt wird, sondern konsequent bekämpft werden kann.


Mobbing ist ein Kriegsschauplatz, und die Waffen sind Worte, Blicke, digitale Angriffe. Die Wunden, die diese Waffen schlagen, sieht man nicht sofort. Sie zeigen sich erst, wenn es zu spät ist – in Selbstzweifeln, Panikattacken, Depressionen. Und ja, manchmal in der Todesanzeige einer 15-Jährigen, die sich vor einen Zug geworfen hat, weil sie es nicht mehr ertragen hat, „hässlich“ und „wertlos“ genannt zu werden.

Wer wird ihr gerecht? Niemand.


Denn in Deutschland gilt immer noch: Mobbing ist Privatsache. Ein persönliches Problem. Kein politisches Thema, kein gesellschaftlicher Skandal. Die Täter lachen, die Opfer schweigen – und die Welt dreht sich weiter.


Wenn du selbst betroffen bist, über Mobbing nachdenkst oder Hilfe suchst, wende dich an eine Beratungsstelle wie die Nummer gegen Kummer unter 116 111 oder an die Telefonseelsorge unter 0800 111 0 111. Du bist nicht allein. Es gibt Menschen, die dir zuhören und helfen wollen.

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