Dass wir über eine Verfassungsrichterwahl diskutieren, ist gut – wie wir es tun, ist verbesserungswürdig
Seit mehreren Wochen wird in den Medien die Wahl drei neuer Richter*innen am Bundesverfassungsgericht diskutiert, obwohl solche Wahlen hierzulande sonst recht unspektakulär ablaufen. Insbesondere bezüglich der SPD-Kandidatinnen konnte sich der Bundestag auch nach heftiger Debatte nicht einigen, sodass die Wahl nun erst nach der Sommerpause stattfinden soll. Die AfD und Teile der Union halten ihre juristischen Standpunkte für linksextrem. Die übrigen Fraktionen sehen einen rechten Kulturkampf. Das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts steht auf dem Spiel – genau wie die deutsche Debattenkultur von Nikitas L. Rischkowsky (KV Stuttgart, Student der Rechtswissenschaft).
Das Wahlverfahren
Das Bundesverfassungsgericht besteht aus zwei Senaten mit jeweils acht Richter*innen, die über die Auslegung des Grundgesetzes entscheiden. Bundestag und Bundesrat wählen jeweils die Hälfte der Richter*innen. Endet ihre zwölfjährige Amtszeit, wird der*die Nachfolger*in vom gleichen Organ gewählt. Der Bundestag soll Verfassungsrichter*innen auf Vorschlag eines überparteilichen Wahlausschusses in anonymer Abstimmung ohne Aussprache in Zweidrittelmehrheit wählen. Die Mitglieder des Wahlausschusses sind zur Verschwiegenheit verpflichtet. Wird binnen zwei Monaten kein Richter gewählt, muss der Ausschuss Vorschläge des Bundesverfassungsgerichts selbst anfordern.
So soll eine kulturkämpferische Politisierung, wie man sie von Ernennungen am Supreme Court in den USA kennt, verhindert werden. Das dient der Stärkung des Vertrauens der Bürger*innen in ein neutrales und professionelles Verfassungsgericht. Gleichzeitig wird die demokratische Legitimation der Richter geschwächt. Zwar entscheidet der Bundestag über ihre Ernennung. Die vorgesehene Abschirmung vor der Öffentlichkeit verhindert aber eine allgemeine Debatte, welche sonst politische Reflexion anregt und Entscheidungen der Parlamentarier angesichts gesteigerter öffentlicher Verantwortung prägt. Diese Abschwächung ist nicht unproblematisch, denn die Verfassungsrichter schaffen bei ihren Entscheidungen durch konkretisierende Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes, neues Verfassungsrecht.
Die Debatte
Die SPD-Kandidatinnen Frauke Brosius-Gersdorf und Ann-Katrin Kaufhold hatten beide eine Empfehlung des Bundesverfassungsgerichts sowie den Vorschlag des Wahlausschusses erhalten. Dennoch sollte es sich bei der Abstimmung nicht, wie im Verfahren angelegt, um eine reine Formalität handeln. Durch Uneinigkeiten innerhalb der Unionsfraktion konnte keine Zweidrittelmehrheit hergestellt werden.
Die sich sträubenden Abgeordneten verwiesen im Plenum darauf, dass sie vor ihrer Wählerschaft die Wahl von Brosius-Gersdorf nicht rechtfertigen könnten. Sie wäre unter anderem eine Befürworterin des Abtreibungsrechts bis zur Geburt, ein fundamentaler Gegensatz zu christdemokratischen Werten und der Menschenwürde. In Wirklichkeit hatte sie sich lediglich wissenschaftlich mit dem Spannungsfeld zwischen den Rechten der Mutter und des ungeborenen Kindes beschäftigt. Dass etwa bei medizinischer Indikation der Schwangerschaftsabbruch allgemein als zulässig gelte, lege nahe, dass in diesem Fall eine Abwägung ausnahmsweise nicht verboten sei oder eben erst das geborene Kind Träger der Menschenwürde sein könne. Das Recht auf Leben komme dem ungeborenen Kind immer zu, sei aber schon dem Wortlaut des Grundgesetzes nach nicht abwägungsfest. Verzerrt wurde die öffentliche Wahrnehmung durch einseitige Berichterstattung in rechten Medien. Hinzu kommen als unbegründet erscheinende Vorwürfe eines berüchtigten Plagiatsjägers. Obwohl inzwischen eine umfassende Aufklärung stattgefunden hat, weigern sich die Unionsabgeordneten vehement nachzugeben. Möglicherweise fürchten sie selbst rechte Angriffe, vielleicht wollten sie eigene Fehler nicht eingestehen. Schließlich musste Brosius-Gersdorf ihre Kandidatur zugunsten der Stabilität der Koalition und Auflösung der Wahl-Sackgasse zurückziehen.
Rechte Medien bezeichnen auch Kaufhold weiterhin als „Enteignungsbefürworterin“ oder „Klimaaktivistin“, obwohl sie das Land Berlin lediglich bei der rechtmäßigen Umsetzung des erfolgreichen Volksentscheids „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“ beriet und den Bund sogar in Verfahren gegen Umweltverbände vertrat.
Eine demokratische Chance
CDU-Abgeordneter Steffen Bilger gab an, die Person einer Verfassungsrichterin solle die Stabilität des Bundesverfassungsgerichts zeigen und nicht Gegenstand hitziger Debatten sein. Die Wahl nur noch unkontroverser Kandidaten würde die Legitimität des Gerichts aber nur weiter beeinträchtigen. Innovative rechtswissenschaftliche Leistungen würden nicht mehr honoriert. Die Meinungspluralität in den Senaten würde geschwächt, sodass eine Weiterentwicklung der Rechtsprechung erschwert würde. Außerdem würde sonst signalisiert, dass sich der Bundestag durch Diffamierungskampagnen beeinflussen ließe.
Vielmehr sollte das Wahlverfahren zukünftig von vornherein in die Öffentlichkeit gerückt werden. Einer stillen objektivierten Eignungsprüfung durch den Wahlausschuss stünde weiterhin nichts entgegen. Fraktionen sollten ihre Kandidat*innen aber frühzeitig und proaktiv bewerben. Die Medien sollten ihnen die Möglichkeit bieten, ihre juristischen Ansichten selbst darzustellen und diese anschließend kritisch einordnen, damit Sachargumente im Vordergrund stehen. Das nicht erst nach politischer Eskalation. Nur so können eine konstruktive Diskursgrundlage und Waffengleichheit der Diskursparteien gefördert werden. Die Bürger*innen würde umfassender beteiligt und könnte Probleme besser überblicken. Das Gericht würde in der öffentlichen Wahrnehmung besser legitimiert.
