„Lufthoheit über den Stammtisch“
„Wer mitmacht, der hat überhaupt nichts zu befürchten“ – mit diesem Wort stellt sich SPD-Chefin Bärbel Bas gegen den Koalitionspartner. Kurz zuvor haben Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) unisono den Tod des Bür-gergelds verkündet. Im Wortlaut klingt das bei Söder so: „Das Bürgergeld ist jetzt Geschich-te.“ Und bei Merz so: „Das Thema Bürgergeld wird damit der Vergangenheit angehören.“
Einen Grabstein müssen die Sozialdemokraten für das Bürgergeld allerdings sicher nicht auf-stellen. Stattdessen könnten sie eine Namensänderung beantragen: Aus dem Bürgergeld wird die Grundsicherung für Arbeitssuchende. Dass damit einhergeht, dass alle Leistungen gestri-chen werden, wie man wegen der Schlachtrufe des Kanzlers und des Bayrischen Ministerprä-sidenten vermuten könnte, ist selbstverständlich absurd. Stattdessen attackiert die Reform in erster Linie die sogenannten Totalverweigerer. Wer zwei Termine beim Jobcenter verpasst, muss ab 2026 mit Kürzungen von 30 Prozent rechnen. Wer ein drittes Mal nicht kommt, dem sollen die Geldleistungen ganz gestrichen werden. Außerdem soll das Schonvermögen verrin-gert, ein schnellerer Umzug aus zu teuren Wohnungen ermöglicht und die Vermittlung von Jobs – auch ohne Qualifizierung – in den Fokus gerückt werden.
Aber was spart das Ganze wirklich? Das Arbeitsministerium spricht von etwa 1,5 Milliarden Euro, die im Bereich der Sozialleistung eingespart werden sollen, Merz sogar von etwa 5 Mil-liarden Euro. Was das mit der Bürgergeldreform zu tun hat, ist eher rätselhaft. Nach ARD-Berichten könnten mit der neuen Grundsicherung im Jahr 2026 nur circa 86 Millionen Euro eingespart werden. Zum Vergleich: Steuerhinterziehung kostet den Staat etwa 100 Milliarden Euro jährlich. Demgegenüber erscheinen die Ersparnisse durch die Bürgergeldreform margi-nal. Es ist sogar möglich, dass ein solcher verwalterischer Mehraufwand entsteht, dass es ab 2028 anstelle von Einsparungen zu zusätzlichen Kosten kommt. Das hängt vor allem damit zusammen, dass der Typus ,Totalverweigerer‘ so gut wie nicht existiert: Weniger als 1 Pro-zent der Leistungsbezieher verweigern zu arbeiten, obwohl sie es könnten
Dennoch hat die Reform eine gewaltige gesellschaftliche Mehrheit hinter sich. Auf eine Um-frage des Meinungsforschungsinstituts YouGov geben 63 Prozent an, die neue Grundsiche-rung zu befürworten. Nur 21 Prozent äußern sich negativ. Und wie der ARD-Deutschland-Trend zeigt, finden nur 12 Prozent der Befragten Bürgergeldkürzungen beim Ablehnen von Arbeit zu streng. Die so eindeutige Meinung in der Gesellschaft könnte auch damit zusam-menhängen, dass die Ausgaben für das Bürgergeld im Jahr 2025 so hoch sind wie nie zuvor. Im Vergleich zu 2016 sind die Kosten, die das damalige Arbeitslosengeld II verursacht hat, um etwa 10 Milliarden Euro gestiegen. Nach Angaben von Statista liegen die Ausgaben der-zeit bei ungefähr 42,6 Milliarden Euro. Das entspricht etwa 8,5 Prozent des Bundeshaushalts. Fakt ist jedoch auch, dass das Arbeitslosendgeld II 2016 circa 8,1 Prozent des Bundeshaus-halts ausgemacht hat. Geht man also fort von den absoluten Zahlen und wendet sich den rela-tiven zu, so erscheinen die Kosten für das Bürgergeld weniger gravierend – die Reform hin-gegen wirkt umso unverständlicher.
Es kann also kaum verwundern, dass Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW), sagt, der Wechsel zur Grundsicherung sei ein „populistisches Ablen-kungsmanöver“, das sicher nicht mehr Menschen zum Arbeiten bringen würde, sondern nur darauf abziele, die „Lufthoheit über den Stammtisch zu behalten.“ Damit macht Fratzscher
auf ein grundlegendes Problem aufmerksam. Im letzten TV-Duell zwischen den Kanzlerkan-didaten Olaf Scholz (SPD) und Friedrich Merz vom 19.02.2025, das von der WELT und der Bild veranstaltet wurde, hat sich ein Bürgergeldbezieher per Videobotschaft vorgestellt: Frank R. aus Berlin, der seit 20 Jahren staatliche Leistungen bezieht und sagt, er habe sich damit arrangiert, am Minimum zu leben. Mit ihm lernen die Kandidaten ein Beispiel für die weniger als 1 Prozent der ,Totalverweigerer‘ kennen. „Das ist nicht akzeptabel“, entrüstet sich Merz über Frank R. Und Scholz sagt: „Wenn wir Frank kriegen wollen, und wir wollen ihn krie-gen.“ Dieser „wir-wollen-ihn-kriegen“-Geisteshaltung ist die Reform entsprungen. Die Kanz-lerkandidaten damals und die Regierenden heute wissen sehr wohl, dass man mit mehr Ver-waltungskosten als Profit rechnen muss, wenn man Leute wie Frank R. ,kriegen will‘. Sie wissen auch, dass Frank R.s fehlende Arbeitsmoral zu keiner Lücke im Bundeshaushalt füh-ren wird. Und sie wissen, dass ein Land, das den Sozialstaat verspricht, eben damit leben muss, unter Tausend Bürgern einen ,Totalverweigerer‘ zu zählen. Aber, dass sie es bloß wis-sen, reicht eben nicht. Sie wollen die „Lufthoheit über den Stammtisch behalten“. Und zwar mit einer „wir-wollen-ihn-kriegen“-Rhetorik und einem Wechsel hin zur Grundsicherung.
Doch die „Lufthoheit über den Stammtisch behalten“ heißt eben leider nicht, dass die Reform nichts anderes wäre als Symbolpolitik. Sicher: Sie ist vor allem Symbolpolitik. Sie dient vor allem der Befriedigung der Wählerschaft, die Merz’ „Das ist nicht akzeptabel“ wörtlich ge-nommen hat. Aber sie betrifft eben auch diejenigen, die am wenigsten haben. Um die Aus-wirkungen der Reform auf die Menschen zu kritisieren, muss man nicht gleich Linken-Fraktionschefin Heidi Reichinneks Credo von „menschenunwürdig und rechtlich höchst fragwürdigen“ Plänen der Regierung und vom „ersten Schritt eines massiven Angriffs auf den Sozialstaat“ glauben. Es reicht schon, sich darauf zu beschränken, die Frage zu stellen, wie viel Bärbel Bas’ Forderung zum Verschärfen der Sanktionen „bis an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist“, mit sozialdemokratischen Werten zu tun haben soll. Es reicht zu betonen, dass Sozialverbände und die Gewerkschaft Verdi angesichts der Reform-pläne von steigender Obdachlosigkeit ausgehen, da nach dem dritten verpassten Termin beim Jobcenter auch die Übernahme der Mietkosten wegfallen würde. Und es reicht, daran zu erin-nern, dass das Verfassungsgericht in einem Grundsatzurteil von 2019 die Streichung aller Sozialleistungen (damals Harzt IV) für rechtswidrig erklärt hat und die Entscheidung wenig überraschend damit begründete, in einem Sozialstaat gebe es ein Grundrecht auf ein men-schenwürdiges Existenzminimum. Dass die Forderung, alle Leistungen zu kürzen, nur sechs Jahre nach dem Urteil wiederkehrt, dass man „bis an die Grenze dessen, was verfassungs-rechtlich möglich ist“, gehen will, dass 2016 wie heute das Ministerium für Arbeit und Sozia-les SPD-geführt ist – das alles ist schwer vorstellbar.
Doch bei aller berechtigten Kritik darf nicht vergessen werden, dass zur Wahrheit auch ge-hört: Politik ist ein Pingpong-Spiel aus Geben und Nehmen. Ein Spiel der Kompromisse. Was das im Einzelnen bedeutet, merkt man, wenn man dem Echo Gehör schenkt, das die Bürger-geldreform in der SPD verlauten lässt. Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD) sagt etwa: „Wenn wir 30 Milliarden einsparen, dann wird das nicht gehen, wenn man einfach nur auf den Sozi-alstaat guckt. Auch die, die viel Vermögen und hohe Einkommen haben, müssen ihren Bei-trag leisten. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit.“ Und einen Vorschlag dafür, wie es gehen kann, „die, die viel Vermögen und hohe Einkommen haben“ zur Kasse zu bitten, bekommt man in überraschender Eintracht von den linken Jusos bis hin zu dem eher konservativen Seeheimer Kreis zu sehen: Flügelübergreifend wird eine Reform der Erbschafts- und Schen-
kungssteuer verlangt. Ein entsprechendes Positionspapier der SPD-Bundestagsabgeordneten Parsa Marvi und Philipp Rottwilm fasst dabei neben einer Anpassung der Freibeträge bei Pri-vatvermögen vor allem eine Ausnahmeregelung bei Unternehmenserben ins Auge. Streicht man diese, könnte der Staat knapp 8 Milliarden Euro im Jahr zusätzlich einnehmen. Ob der absurde Wechsel zur neuen Grundsicherung am Ende politisches Kalkül ist, um eine Ver-handlungsbasis für schwierige Diskussionen über eine neue Erbschaftssteuer zu haben? Ob die Bürgergeldreform ein makabres, aber bewusstes Bauernopfer ist, um ein Druckmittel in der Hand zu halten? Ob auf das Schicksal der wenigen ,Totalverweigerer‘ keine Rücksicht genommen, die niedrige zu erwartende Ersparnis ignoriert, der Union der symbolpolitische Erfolg gegönnt wird, um hinter verschlossenen Türen ein Tauschgeschäft zu vereinbaren, das so aussehen könnte: „Ihr habt die Grundsicherung bekommen, dafür wollen wir die Erb-schaftssteuer reformieren“? Das ist ungewiss. Vielleicht sogar unwahrscheinlich. Schließlich sind keine Informationen bekannt, die das bestätigen würden. Aber es ist eine Hoffnung. Die Hoffnung, dass aus den Eingeständnissen der SPD beim Bürgergeld Eingeständnisse der Uni-on bei der Besteuerung von Reichen folgen. Und – anders als das Bürgergeld laut Friedrich Merz und Markus Söder – stirbt eine solche Hoffnung bekanntlich zuletzt.
